Ist Ghana arm?

Ist Ghana arm?

Wir kommen mit dem Bus an, im Zentrum, neben einer Tankstelle, viele Taxifahrer rufen nach uns, ob sie uns irgendwohin fahren können. In unmittelbarer Nähe befinden sich eine Bettlerin und zwei Kinder, die umher streunern. Auf der Straße drängen sich hupende Autos und hier und da Fahrradfahrer, alle in Flipflops auf alten, angerosteten Rädern. Auf der anderen Straßenecke der Markt, Stände mit frischem Obst und Gemüse, Second Hand Klamotten und Alltagsgegenständen. Überall Menschen, viele starren auf ihr Handy oder halten es sich ans Ohr. Die Sonne scheint.

Was denkt, ihr: befinden wir uns in Tamale oder im Bezirk Friedrichshain in Berlin?

Ich weiß es selbst nicht, während ich es schreibe. Es könnte im „armen“ Ghana oder im „reichen“ Deutschland sein. Ist diese Unterteilung gerechtfertigt? Vermutlich sind sogar anteilig genauso viele Menschen in diesem Szenario total happy wie deprimiert. Die Frau, die nach Geld fragt, hat vielleicht eine Rente, aber keine Wohnung und kann sich nur unregelmäßig waschen. Oder aber, sie hat sich entschieden, wohnungslos zu sein und frei von Ort zu Ort mit ihrem alten klapprigen Fahrrad zu fahren und die Welt zu erkunden. Hat man in Ghana eine solche Entscheidungsfreiheit? Oder hat es dann doch etwas mit Geld zutun?

Ghana befindet sich in Westafrika. Durch viele Medienbeiträge, Fotos und Videos von verschiedenen Organisationen kursiert in großen Teilen Deutschlands der Mythos des armen Afrikas. So zumindest mein Eindruck. Bilder von staubigen Straßen, dreckiger Kleidung, dunkelhäutigen Menschen, dickbäuchigen Kindern und mit UN-Slogan geschmückten Planen durchziehen die Fundraising-Landschaft des international tätigen gemeinnützigen Sektors.

Es ist bereits differenzierter geworden, aber noch vor 5 Jahren konnte man sogar an vielen Straßenecken auf diesen großen digitalen Anzeigetafeln und in Einlege-Blättern der Magazine und Zeitungen genau diese Erzählung lesen und sehen. Auch die international festgelegten Ziele, die aktuell SDGs (Sustainable Development Goals) heißen, thematisieren Armut: Eines der Ziele ist nämlich „Keine Armut – Armut in allen ihren Formen und überall beenden“[1]. Dort wird extreme Armut mit Hilfe des Pro-Kopf-Einkommens „mit weniger als 1,25 Dollar pro Tag“[2] pro Kopf definiert. Das solle beseitigt werden. In Ghana liegt das Pro-Kopf-Einkommen in 2018 bei 4.746 US-Dollar.[3] Ist das viel oder wenig?

Die Bundeszentrale für politische Bildung definiert Armut als „die wirtschaftliche Situation einer Person oder einer Gruppe von Menschen, in der diese nicht aus eigener Kraft einen als angemessen bezeichneten Lebensunterhalt bestreiten kann (objektive Armut) oder ihre materielle Lage selbst als Mangel empfindet (subjektive Armut). Welcher Lebensunterhalt jeweils als angemessen betrachtet wird, verändert sich mit der kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Situation der Gesellschaft, weshalb international von absoluter Armut (sehr niedriges Pro-Kopf-Einkommen) und relativer Armut (im Vergleich zur Bevölkerung eines Landes) gesprochen wird,“[4]. Ich muss sagen, die Version der subjektiven Armut gefällt mir von allem schon am besten.

In einer Welt, in der das Geld regiert.

In diesen angeführten und anderen Definitionen lese ich stark die wirtschaftliche Komponente heraus. Es wird recht oft von Pro-Kopf-Einkommen gesprochen. In einer Welt, in der das Geld regiert, nicht verwunderlich. Auch in meiner Umgebung geht es oft ums Geld:

„In der einen Branche verdient man mehr.“

„Kind, lern etwas vernünftiges, damit du später gutes Geld verdienst.“

„Ich will unbedingt eine Gehaltserhöhung dieses Jahr.“

„Für das Geld würde ich aber nicht arbeiten.“ usw.

 

‚Wer Geld hat, dem geht es gut‘, wird suggeriert. Ich denke nicht, dass das stimmt!

Auf Deutschland bezogen möchte ich zwei Beispiel nennen: In vielen Städten verlieren Menschen ihre Wohnung oder finden keine neue – haben aber durchaus ein Einkommen. Sie sind wohnungslos und für viele „arm“. Jemand mit eigenem Haus und Hof aus Familienbesitz mit einem kleinen Verkaufsladen, verdient vermutlich monatlich nicht viel, hat aber alles, was er oder sie braucht. Auch in Ghana ist es schwierig allein die wirtschaftliche Lage und durchschnittliche Werte zu erheben. Die Schere zwischen schlechter und besser verdienenden Menschen ist recht groß; die Wirtschaft im Süden ist viel stärker als die im Norden; es gibt viele, die ihre Farm haben und sich davon versorgen. Was sagt also ein Pro-Kopf-Einkommen aus? Was kann man sich von 4.746 US-Dollar in Ghana kaufen? Ist man arm, wenn man keine Wohnung hat? Wenn man seine Kinder nicht zur Schule schicken kann? Ist man arm, wenn man keinen Job hat? Ist man arm, wenn man kein Smartphone besitzt?

Ein guter Freund meinte kürzlich: „Für mich ist jemand arm, der eingeschränkte Entscheidungsmöglichkeiten hat, dem viele Wege von Grund auf verschlossen bleiben.“

Was bedeutet es keine Wahl zu haben?

In Deutschland: Unsere Freundin, die Weltreisende, kennt viele Leute, bekommt, wenn sie fragt, von Papa und Mama eine Bürgschaft und erhält recht schnell eine Wohnung; fängt ein Studium irgendwo an zahlt ihre Reisen von ihrem Sparkonto, was zu Geburtstagen und Weihnachten immer „automatisch“ gefüllt wird, Bafög kommt auch dazu. Sie kann jederzeit zum Arzt gehen, da sie in Deutschland krankenversichert ist und eine günstige Auslandskrankenversicherung hat. Die andere Person, die Bettlerin, lebt auf der Straße, trinkt sich die Sorgen weg und hält ihren Körper damit warm, sie ist nicht krankenversichert, muss also ihre Schmerzen einfach aushalten und hat schon längst aufgegeben, nach Wohnungen zu schauen, da sie tausend mal abwertend angeschaut und abgewiesen wurde. Sie ist sehr oft allein, kann aber ab und zu in einer Obdachlosenunterkunft gehen, für 1 Nacht, wenn es noch nicht voll ist. Dort kann sie ihr Handy laden.

In Ghana: Unsere Freundin, die Weltreisende, kennt viele Leute, eine Wohnung kann ihr niemand besorgen, aber sie kann wieder bei ihren Eltern einziehen. Der Studienplatz ist zu teuer, sie fängt an zu jobben, in einem Internetcafe und spart Geld für ihre nächste Reise. In alle Länder kann sie nicht reisen, das mit dem Visum ist recht schwer, das weiteste war London, denn Ghana ist eine ehemalige britische Kolonie und hat noch Visaerleichterungen. Ihre Eltern haben sie krankenversichert, aber nur in Ghana. Trotzdem muss man noch draufzahlen, wenn man zum Arzt geht, mindestens 50%. Deshalb geht sie nur in dringendsten Fällen. Fürs Ausland gibt es keine Krankenversicherungen. Die andere Person, die Bettlerin, lebt auf der Straße, sie hat nur die Kleidung, die sie am Körper trägt, kann sich nie waschen, schläft im Park. Ab und zu kommt eine Hilfsorganisation mit warmen Essen vorbei, alles andere erbettelt sie sich, es reicht meist nur für ein Stück Brot pro Tag. Sie ist nicht krankenversichert. Sie wird im Stadtbild toleriert, viele Menschen geben ihr ein paar Cent. Sie ist allein. Sie hat kein Handy.

Ich würde sagen, unsere beiden Bettlerinnen sind recht arm dran. Ob die eine jetzt eine Rente hat, ein Handy besitzt und ab und zu in der Obdachlosenunterkunft essen und schlafen kann, macht aus meiner Sicht nicht den Unterschied. Sondern die Ausweglosigkeit aus einer so schweren Situation. Die beiden Weltenbummlerinnen haben auch ähnliche Ambitionen und Familien, die sie unterstützen. Allerdings hat die ghanaische Studentin weniger Wahlmöglichkeiten, keine eigene Wohnung und weniger Geld zur Verfügung. Ist sie deshalb arm? Aus meiner Sicht nicht. Ich kann mir sogar vorstellen, dass sie viel glücklicher ist, als die andere.

Ich möchte mit meinen Gedankenspielen zeigen, dass der Begriff „Armut“ irreführend ist. Dass es weder an einem bestimmten Land, noch an einer von außen betrachteten Person festzumachen ist, ob jemand arm ist oder nicht. Menschen in Ghana sind nicht persé arm. In Ghana gibt es gut Verdienende, arbeitslose Menschen, Kranke und Gesunde, es gibt Influencer und Bauern, es gibt neureiche Stadtkinder und Dorffamilien. Wer von denen glücklich oder nicht glücklich mit seinem/ihren Leben ist, weiß ich nicht. Ich weiß aber, dass bisher mehr glücklichen, lachenden und in sich ruhenden Menschen in Ghana begegnet bin als in Deutschland. Statt dem Pro-Kopf-Einkommen oder dem Bruttosozialprodukt, sollten wir also vielleicht vielmehr die Länder und Regionen nach dem Glücksfaktor unterscheiden. Ich frage mich, ob dann Ghana immernoch auf Platz 173 von 194 landet und Deutschland unter den ersten 10. 🙂

 

[1] https://www.sdgs.be/de/sdgs/1-keine-armut

[2] https://www.sdgs.be/de/sdgs/1-keine-armut

[3] https://www.liportal.de/ghana/wirtschaft-entwicklung/

[4] https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/lexikon-der-wirtschaft/18705/armut

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